Tocotronic: Ohne Widerstand ist alles für die Tonne

Magazin

Tocotronic: Ohne Widerstand ist alles für die Tonne

Pünktlich zum 1. Mai veröffentlichen Tocotronic ihr "Rotes Album" - und es handelt doch tatsächlich von: Liebe. Um "Kampf" geht es aber natürlich auch. Denn ohne etwas Widerständiges ist Rock nur maskierter Schlager, sagt Sänger Dirk von Lowtzow im Interview.

Jede Musikströmung hat ihre Ikonen. Dirk von Lowtzow (44) leiht seine Stimme seit 22 Jahren Tocotronic – und ist über diese Zeit auch eine der Stimmen im Kopf der Freunde intelligenter Rockmusik geworden: Kryptisch, lyrisch, mal aufrührerisch als Slogan, kratzig und schmeichelnd. Aber fast immer ohne einfache Antworten. Ein anspruchsvolles Programm. Insbesondere für Musik, die sich auch noch gut verkauft.

Zuletzt, 2013, hatten sich Tocotronic gefragt, „wie wir leben wollen“. Nun veröffentlicht die Band pünktlich zum 1. Mai ein „Rotes Album“. Und nein, es geht zumindest nicht so ganz direkt um den Kampf gegen den Kapitalismus – sondern um Liebe, das „interessanteste Thema“ dieser Tage. Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur spot on news hat von Lowtzow über dieses „verminte“ Terrain gesprochen. Und erzählt, warum Rock ohne Widerstand bloß schnöder Schlager ist und Altersweisheit tendenziell nur noch ein Gerücht.

All das tut er so, wie man das von einem gereiften, aber längst nicht abgekühlten Musiker erwartet: Mit herzlichem aber rauem Lachen, geduldig-stilvollem Willen zur Antwort, gefestigten Meinungen – und klaren, unausgesprochenen Grenzen. Wird er Details aus dem Innenleben der Band oder autobiografische Hintergründe von Songs verraten? Eher nicht. Vielleicht nicht einmal aus Geheimniskrämerei. Sondern weil doch eigentlich die „Oberfläche“ viel interessanter ist, als das „Innen“…

Als man hörte, dass Tocotronic am 1. Mai ein „Rotes Album“ veröffentlichen, erwarteten viele ein sehr politisches Werk. Aber eigentlich geht es eher in eine andere Richtung, oder?

Dirk von Lowtzow: Als wir das Album geschrieben haben, letztes Jahr, hat sich in der Gruppe ziemlich schnell herauskristallisiert, dass es ein Konzeptalbum über Liebe werden wird. Das erschien uns im Augenblick das interessanteste Thema, das man beackern kann. Gerade von der politischen Ebene aus. Deswegen steht das Rot hier eher für die Liebe. Aber natürlich: Ohne Kampf gegen die Dinge, die einem die Liebe vermiesen können, gibt es auch keine Liebe. Und insofern steht das Rot auch für den Kampf.

Warum ist Liebe gerade das interessanteste Thema für Tocotronic? Und warum ist es politisch?

von Lowtzow: So eine Entscheidung entsteht aus einem Bauchgefühl heraus. Man kann sich manchmal die Themen, über die man schreibt, nicht aussuchen. Das kommt so zu einem; man hat als Musikerin oder Musiker bestenfalls Antennen, um das wahrzunehmen. Und ich habe die Erfahrung gemacht: Das passiert auch immer zur richtigen Zeit. Und natürlich ist die Themenwahl dann das Ergebnis eines langen Prozesses und von Gesprächen über dieses Thema Liebe. Um über das Thema Liebe angemessen schreiben zu können, muss man sich zu allererst innerhalb der Gruppe öffnen. Das war eigentlich sehr schön.

Texte über Liebe zu schreiben, ohne ins Klischee abzudriften – das war nicht die einfachste Wahl, oder?

von Lowtzow: Auf jeden Fall! Wenn man sich entscheidet, über Liebe zu schreiben, dann muss man wissen: Das ist vermintes Gelände. Aber das spornt natürlich an. Je größer die Fallhöhe, desto interessanter. Sonst wäre es auch ein bisschen langweilig und risikolos. Wenn man sich als Band für ein Thema entscheidet, dann sollte die Möglichkeit des Scheiterns schon dasein. No risk, so fun! So ist das manchmal.

Im Song „Ich öffne mich“ singen Sie von einem Draußen in das Sie gelangen wollen. In welches Draußen kommt man dieser Tage noch?

von Lowtzow: Mir ging es da um eine Abgrenzung von der Ideologie der Innerlichkeit, mit der man permanent belästigt wird. Es muss alles innerlich, tief empfunden sein; authentisch, aus einem selber heraus kommen – und genau das interessiert mich überhaupt nicht. Mich interessiert die Oberfläche, mich interessiert das Außen, mich interessiert das, was Draußen stattfindet. Vielleicht gibt es eine Art von Sinnesorgan, zum Beispiel die Haut, über das man Liebe empfangen kann, das nicht so ideologisch vorbelastet ist, wie das Herz, das ja innen drin im Körper und der Hüter der Geheimnisse ist.

Es klingt auch ein bisschen, als wäre das Erwachsenwerden, oder Nichterwachsenwerden ein Thema auf dem Album. Oder ist das nur der Song „Die Erwachsenen“, der diesen Eindruck weckt?

von Lowtzow: Eigentlich würde ich sagen, ist das Thema auf diesen Song begrenzt.

Aber trotzdem: Etwas explizit Widerständiges, Trotziges haben sich Tocotronic doch bewahrt, über die mehr als 20 Jahre Bandgeschichte. Auch auf dem „Roten Album“, oder?

von Lowtzow: Ja klar! Sonst wär’s ja auch keine Rockmusik, sondern Schlager. Das ist auch etwas, womit man in Deutschland permanent konfrontiert wird – das meiste, was hier als Rockmusik verkauft wird, ist maskierter Schlager. Wenn Musik nicht widerständig ist, dann kann man’s auch in die Tonne treten. Das ist doch ganz klar.

Ist das vielleicht auch die große Herausforderung, über so viele Jahre immer widerständig und dabei glaubwürdig zu bleiben?

von Lowtzow: Ich finde das jetzt ehrlich gesagt etwa cliché mit dem Älterwerden. Es gibt so viele Leute, die sind jung und dermaßen angepasst und konform, da denkt man: „Mann… meine Herren, wo wollt ihr denn noch hinkommen?“ Und es gibt sehr viele Leute, die sind älter als wir, die exzentrische, unangepasste Denkerinnen und Denker sind. Ich denke, so wahnsinnig viel mit dem Alter hat das nicht zu tun. Also: Natürlich, man altert, man stellt das auch an sich fest. Aber ein Gutteil dieser Kategorie ist auch soziale Konstruktion.

Aber zumindest in den sich ändernden Erwartungen von außen ist das Älterwerden doch auch eine gesellschaftliche Realität.

von Lowtzow: Ist es das? Das wäre eine interessante Frage. Findet nicht umgekehrt auch eine enorme Infantilisierung der Gesellschaft statt? Diese vielbeschworene Altersweisheit, die Leuten attestiert wird… ich bin gar nicht so sicher, ob das so ist. Ich könnte mir vorstellen, dass heutzutage auch von älteren Leuten gefordert wird, jung und stets flexibel zu bleiben. Tocotronic sind aber keine Soziologen, sondern eine Rockgruppe, wir schreiben Lieder und führen keine empirischen Untersuchungen durch. Und so alt sind wir ja nun auch wieder nicht (lacht).