„Inherent Vice“: Der kleine Bruder des großen Lebowski

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„Inherent Vice“: Der kleine Bruder des großen Lebowski

Mit der gleichnamigen Verfilmung von Thomas Pynchons Buch "Inherent Vice" hat sich Paul Thomas Anderson viel vorgenommen. Dass der Film streckenweise in eine komplett wirre Erzählung verfällt, gleicht Joaquin Phoenix mit seiner herrlichen Darbietung wieder aus.

Drogen statt White Russians, der Doc statt der Dude, und anstelle von Bowlingabenden noch ein wenig mehr Drogen: Paul Thomas Andersons (44) „Inherent Vice“ dreht den Absurditäts-Regler auf Anschlag, verknüpft unzählige Stars in einem schier unmöglich zu verstehenden „Slapstick-Film-Noir“ und ist stilistisch wie erzählerisch der geistige Bruder von „The Big Lebowski“.

Wer mit wem… und warum?

Wenn eine Film-Handlung derart verworren wie bei „Inherent Vice“ ist, fällt die Inhaltsangabe vergleichsweise leicht, schließlich kann man sich auf das Nötigste konzentrieren: Es ist das Jahr 1970 und Larry „Doc“ Sportello (Joaquin Phoenix, 40), ein stets bis in die Haarspitzen zugedröhnter Privat-Detektiv, bekommt Besuch von einer alten Liebe. Seine Ex beauftragt ihn damit, ihren aktuellen Geliebten, den reichen Bauunternehmer Mickey Wolfmann, ausfindig zu machen. Denn offenbar plant dessen Frau (wiederum gemeinsam mit ihrem Geliebten), den Millionär zwangseinweisen zu lassen, um so an seine Kohle zu kommen.

Was folgt ist ein erzählerischer wie optischer Drogentrip: Bei Docs zuweilen wahllos erscheinenden Nachforschungen begegnet er Kokain-schnupfenden Zahnärzten, hilfsbereiten Prostituierten, skurrilen Killern, die am Hals ihrer Opfer vampirähnliche Male hinterlassen und einem Juden, der gerne ein Nazi wäre. Verwundert es da, dass am Ende selbst Hauptdarsteller Phoenix keinen blassen Schimmer mehr hatte, was in dem Film überhaupt vonstatten geht? Gegenüber der „Welt“ sagte der Schauspieler: „Bei vielen Filmen ist die Route klar. Bei diesem eben nicht“ – wer am Ende von „Inherent Vice“ auf die alles erklärende Lösung wartet, wird stattdessen mit einem gigantischen Fragezeichen aus dem Kino entlassen.

Bilder sagen mehr als tausend Voice-Overs

Es klingt widersprüchlich, aber bei „Inherent Vice“ geht es nicht darum, das Gezeigte zu verstehen. Zwar werden in bester Film-Noir-Tradition per Erzählstimme immer wieder Dinge geschildert, doch das gerät früh im Film zur Nebensache. Vielmehr soll durch die verworrenen Handlungsstränge, langen Einstellungen und psychedelischen Bilder eine (alb)traumhafte Stimmung erzeugt werden, die für sich selbst spricht. Diese ist mitunter derart absurd, dass nur lautstarkes, ein wenig manisch wirkendes Lachen aus dem Zuschauer herausbrechen kann – wenn er sich darauf einlässt. Denn für das große Publikum ist „Inherent Vice“ eindeutig zu schräg, zu abstrakt und mit beinahe 150 Minuten auch viel zu lang.

Die Hauptfigur Doc lebt den Traum eines jeden Hippies

„Es ist groovy, verrückt zu sein“

Eine Figur fasst die Prämisse des Films mit einem Satz perfekt zusammen: „Es ist groovy, verrückt zu sein“. Manches Mal hält es der Streifen aber für zu groovy, einige Szenen wirken überfrachtet und aufgesetzt. Zumeist funktioniert der cineastische Wahnwitz aber, nicht zuletzt dank Hauptdarsteller Phoenix und seiner Figur Doc: „Manchmal reagiert er nicht so, wie man sich das in der jeweiligen Situation eigentlich vorstellen würde. Das hat zum einen damit zu tun, wie high er ist. Und zum anderen liegt es wohl irgendwie an seiner Persönlichkeit“, erklärt Phoenix im „Welt“-Interview.

Speziell diese Momente sind es, die mit derart viel Situationskomik aufwarten, dass hysterisches Gelächter die Folge sein muss – wenn Phoenix etwa beim Anblick eines Bildes schrill zu kreischen anfängt, nur um Sekunden später so zu tun, als wäre nichts geschehen. Hier lässt „Fear and Loathing in Las Vegas“ eindeutig grüßen. Auf vergleichbare Art wie einst Johnny Depp (51) wandert Doc von einer skurrilen Aktion zur nächsten und macht wie auf magische Weise bei seinen Ermittlungen tatsächlich Fortschritte. So fügt sich in der Verfilmung des Thomas-Pynchon-Romans am Ende augenscheinlich doch alles zusammen, auch wenn die meisten Zuschauer an dieser Stelle schon längst aufgegeben haben, sich einen Reim aus der Handlung machen zu wollen.

Doc (Phoenix, l.) und „Bigfoot“ (Josh Brolin) verbindet eine Hass-Liebe

Paul Thomas „Wes“ Anderson?

Hinsichtlich der Besetzung tut es Paul Thomas seinem Namensvetter Wes Anderson (45, „Grand Budapest Hotel“) gleich. Dieser ist bekannt dafür, unzählige Stars in seinen Werken auflaufen zu lassen. Bei „Inherent Vice“ gibt sich neben Phoenix der ebenso glänzend aufgelegte Josh Brolin (46, „No Country For Old Men“) als stoischer, oral-fixierter Cop und Gegenspieler die Ehre. Zusätzlich tauchen Benicio Del Toro (47), Reese Witherspoon (38), Owen Wilson (46), Jena Melone (30) und der Show-stehlende Martin Short (64) in Kurzauftritten auf.

Fazit

„Inherent Vice“ beeindruckt mit psychedelischen Bildern, die perfekt in das Setting der wilden Siebziger passen und zurecht eine Oscar-Nominierung für das beste Kostüm-Design einbrachten. Dass die Story quasi unmöglich nachvollzogen werden kann, ist zwar einerseits so gewollt, wird viele Kinogänger aber nichtsdestotrotz vor den Kopf stoßen. Zumal der Film mit beinahe 150 Minuten die Geduld der Zuschauer doch arg auf die Probe stellt. Wer so lange aushält, wird immer wieder mit lächerlich-komischen Aktionen von Doc alias Joaquin Phoenix entschädigt. Am Ende will man es dem Film irgendwie nicht übel nehmen, dass er so abgedreht ist, auch wenn er stellenweise doch arg strapaziert – schließlich „ist es groovy, verrückt zu sein“.