„Everest“: Berg des Wahnsinns

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„Everest“: Berg des Wahnsinns

Bis 2013 starben am Mount Everest insgesamt 248 Menschen. Acht von ihnen setzt der Film "Everest" nun ein Denkmal. Das Drama von Regisseur Baltasar Kormákur ist ein beeindruckendes und bewegendes Meisterwerk.

Nie war die Todeszone des Mount Everest sichtbarer als in diesem Film. Ein Bergsteiger taumelt auf einem schmalen Grad und stürzt sang und klanglos in den Abgrund. Ein anderer reißt sich bei minus 40 Grad die Klamotten vom Leib, weil ihm zu heiß ist. Danach verschwindet er im Nebel. Seine Leiche wird nie gefunden. Ein anderer verbringt die Nacht auf 8.700 Meter, knapp unter dem Gipfel. In dieser Höhe stirbt der Körper einfach so. Er kann aus eigener Kraft nicht mehr absteigen, eine finale Rettungsmission scheitert. Über ein Satellitentelefon richtet er seine letzten Worte an seine Frau. „Ich liebe dich. Schlaf gut, mein Schatz. Mach Dir bitte nicht zu viele Sorgen.“ Kurz darauf ist er tot.

„Everest“ erzählt die Tragödie, die sich 1996 auf dem höchsten Berg der Welt abspielte. 30 Bergsteiger gerieten am 10. und 11. Mai in einen verheerenden und alles verschlingenden Sturm, acht von ihnen kamen dabei ums Leben. Es war der bis dahin tödlichste Tag in der Geschichte des Mount Everest. Der US-Journalist Jon Krakauer nahm für das Magazin „Outside“ an der verhängnisvollen Expedition teil. Er sollte über die zunehmende Kommerzialisierung des Bergsteigens berichten – fast wäre genau diese ihm selbst zum Verhängnis geworden. Krakauer überlebte das Unglück knapp und schilderte in seinem Buch „In eisigen Höhen“ die Ereignisse. Das Werk wurde ein millionenfach verkaufter Bestseller. Der Stoff war in seiner ganzen Dramaturgie und Tragik wie gemacht für Hollywood, trotzdem nahm sich erst 2013 die britische Filmproduktionsgesellschaft Working Title Films der Geschichte an.

65 Millionen Dollar Budget bekam der isländische Regisseur Baltasar Kormákur (49, „Two Guns“) für „Everest“. Mit dieser Summe einher ging die Verantwortung, damit einen Film zu drehen, der sich nicht nur an Experten richtet, sondern auch den Massenmarkt bedient. Dessen Bilder authentisch genug sind, um Bergsteiger nicht aus dem Kino zu vertreiben, und dessen Geschichte genug hergibt, um Sportmuffel zu unterhalten. Zudem ist bis heute umstritten, wer die Hauptschuld an dem Unglück trägt und welche Personen welche Rollen an jenen Tagen spielten. Es gibt sicherlich einfachere Aufgabenstellungen für einen Regisseur. Kormákur meisterte den permanenten Spagat mit Bravour.

Unglück am Mount Everest

Er fokussiert sich auf den Neuseeländer Rob Hall (Jason Clarke) und seine Expedition „Adventure Consultants“. Hall ist ein stets auf Sicherheit bedachter und gewissenhafter Bergführer, zu dessen acht Klienten unter anderem der depressive texanische Millionär Beck Weathers (Josh Brolin), der Postbote Doug Hansen (John Hawkes) und der Journalist Jon Krakauer (Michael Kelly) gehören. Ende März beginnt er mit seinem Team die Expedition auf das Dach der Welt. Sein Pendant aus Seattle ist Scott Fischer (Jake Gyllenhaal), Leiter der Expedition „Mountain Madness“ und ebenfalls ein erfahrener Bergsteiger, aber mehr Lebemann und Freigeist als Hall. Weil der Andrang am Berg bedenklich hoch ist, entschließen sie sich, ihre Teams zusammenzulegen, um zielgerichteter arbeiten zu können und so zügiger voranzukommen.

Der Film beginnt beim Eintreffen der Protagonisten in Nepal und legt nach einer kurzen Einführung sofort los. Die Strapazen der Akklimatisation, die Angst und Selbstzweifel der Teilnehmer, die Arbeit der Helfer im Hintergrund, die zurückgebliebenen Familien: Fast alle kommen im Film zu ihrem Recht. Bei der Charakterzeichnung konzentrieren sich Kormákur und seine Autoren auf die oben genannten Protagonisten aus Halls Team, zum einen, weil ihre Rollen besonders entscheidend und tragisch sind, zum anderen, weil ansonsten bei rund 30 Teilnehmern der Überblick verloren geht.

Erinnerungen an „Gravity“

Die Kamera wechselt zwischen beeindruckenden und majestätischen Weiten und Nahaufnahmen der Menschen. Der Berg steht in seiner ganzen Pracht da, während sich in den Gesichtern der winzigen Bergsteiger Qual und Pein spiegeln. Die Schauspieler machen ihre Sache hervorragend, der eigentliche Star des Films ist aber zweifellos der Everest. Die Macht der Bilder erinnert mitunter an den Oscar-Abräumer „Gravity“ aus dem Jahr 2013.

Was treibt Menschen an, zwischen 50.000 und 100.000 Dollar zu bezahlen, um sich damit einer tödlichen Gefahr auszusetzen? Die Antworten darauf sind höchst individuell. Der eine bekämpft damit seine Depressionen, der andere sein fehlendes Selbstwertgefühl und wieder andere leben ihre Abenteuerlust aus. Es spielt letztendlich keine Rolle. Bis Ende der Siebziger war der Everest ja vor allem Elite-Alpinisten vorbehalten. Das änderte sich, als erfahrene Bergsteiger mit Hilfe einheimischer Sherpas damit begannen, Bergtouristen gegen Bares auf den Gipfel zu schleppen. In den darauffolgenden Jahren entwickelte sich ein Run auf den Everest, der nicht nur zu einer Vermüllung des Berges führte, sondern zu fatalen Staus auf dem Weg zum Gipfel. Vor allem in der Todeszone über 8.000 Meter, wo die Luft sehr dünn ist, stehen sich Kletterer immer wieder gegenseitig im Weg.

Als Hall und Fischer nach wochenlanger Schinderei schließlich mit ihren Teams aufbrechen, gibt es unterhalb des Gipfels einen Stau. Mit katastrophalen Folgen: die Teilnehmer verbrauchen während der Wartezeit ihre Vorräte an künstlichem Flaschen-Sauerstoff und kühlen durch die fehlende Bewegung aus. Bis sie den Gipfel erreicht haben, sind viele völlig verausgabt, außerdem gerät der überlebenswichtige Zeitplan durcheinander. Dabei ist es viel gefährlicher, einen Berg hinabzusteigen als ihn hinaufzukommen. Die tödlichen Unfälle passieren meistens auf dem Rückweg. Als auch noch ein Sturm mit der Kraft eines Orkans die völlig erschöpften Bergsteiger trifft, nimmt das Unglück seinen Lauf.

Authentisch bis zum Ende

Gedreht wurde „Everest“ zu weiten Teilen vor Ort in Nepal und den italienischen Alpen. Die Strapazen haben sich gelohnt: Die Bilder sind beeindruckend, die Aufnahmen am Berg sehen glaubhaft aus. Lediglich bei wenigen Szenen die am Khumbu Eisbruch, am Südsattel und auf dem Gipfel spielen, merkt man, dass auch im Studio gearbeitet wurde. Es macht sich bezahlt, dass die Verantwortlichen David Breashers als Co-Produzenten ins Boot holten, einen der besten Bergsteiger der Welt, der zum Zeitpunkt des Unglücks selber am Berg war, um einen IMAX-Film zu drehen.

Der Wille, möglichst authentisch und nah am Geschehen zu bleiben, geht manchen Kritikern sogar zu weit. Mitunter wurde bemängelt, dass der Film bei der Schuldfrage keine konkrete Perspektive einnehme. Tatsächlich stimmt, dass die Produzenten sich auch hier richtig entschieden haben: Kormákur zeigt nicht mit dem Finger auf bestimmte Personen, wie das etwa Krakauer in seinem Buch gemacht hat. Das ist nicht nötig, weil die Dramaturgie auch so funktioniert. Und es wäre auch falsch, denn die Analyse des Unglücks wird wohl nie endgültig abgeschlossen sein.

Ein paar Gründe für die Katastrophe, die im Film auch angesprochen werden, sind allgemeiner Konsens: Es gab und gibt zu viele Bergsteiger auf dem Everest, die mit großen Höhen keine Erfahrung haben. Der Wettkampf zwischen den Expeditionen verleitete die Bergführer mitunter dazu, ihre Klienten unbedingt auf den Gipfel bringen zu wollen und dabei bestimmte Gefahren zu ignorieren. Der Einsatz und Umgang mit künstlichem Sauerstoff ist bis heute umstritten. Am Fatalsten war 1996 jedoch der alles verschlingende Sturm mit der Kraft eines Orkans.

Fazit:

Mit „Everest“ hat eine der größten Tragödien der Bergsteiger-Geschichte ein würdiges Denkmal erhalten. Die schiere Kraft der Bilder alleine ist schon überwältigend, die dramatische und so glaubwürdig wie respektvoll erzählte Geschichte sorgt dafür, dass man den Kinosaal mit Gänsehaut verlässt. Nicht nur auf Leinwand, auch bei der Oscar-Verleihung dürfte der Film von Baltasar Kormákur eine gute Figur machen.