„Disconnect“: Das digitale Gewissen

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„Disconnect“: Das digitale Gewissen

Sie sind ständig online, sehnen sich nach menschlicher Verbindung und sind doch alleine. Regisseur Henry-Alex Rubin hat mit seinem ersten Spielfilm "Disconnect" einen spannenden, emotionalen Internet-Thriller abseits der Klischees geschaffen.

Facebook, Chatrooms und Online-Foren – das soziale Versprechen des Internets zeigt sich in „Disconnect“ von seiner lebensgefährlichen Seite: Hinter Freundschaftsangeboten, Selbsthilfegruppen und Vertrauensvorschüssen verbirgt sich eine Welt aus Cyber-Mobbing, Porno-Chats und Online-Kriminalität.

Es wäre ein leichtes gewesen, diesen Film zu vermasseln. Man hätte nur alle Abgründe des Internets – Kinderpornographie, Mobbing, Kreditkartenbetrug, NSA-Spionage – in einen Sack packen, mit der Moral-Keule darauf einschlagen und den fertigen Brei schließlich dem digital inkontinenten Zuschauern über den Kopf kippen müssen. Regisseur Henry-Alex Rubin geht zum Glück trotz vieler klischeehafter Grundzutaten einen anderen, besseren Weg. Nach seinem Oscar-nomierten Dokumentarfilm „Murderball“ hat er mit seinem Spielfilm-Debüt ein spannendes Episoden-Drama im Stile von „L.A. Crash“ geschaffen. Die drei Handlungsstränge laufen weitestgehend nebeneinander her und kreuzen sich nur selten.

Der minderjährige Kyle (Max Thieriot) prostituiert sich in einem Porno-Chat, als die ehrgeizige und schöne Journalistin Nina Dunham (Andrea Riseborough) auf ihn aufmerksam wird. Sie wittert eine große Story und bringt Kyle dazu, ihr zu vertrauen und in einem TV-Interview über die Machenschaften der Hintermänner auszupacken. Als es Nina deswegen beruflich an den Kragen geht, verrät sie Kyle an das FBI, das den Pornoring ausheben will.

Der Ex-Cop und Spezialist für Internetkriminalität Mike Dixon (Frank Grillo) lebt allein mit seinem Sohn Jason (Colin Ford). Trotz seiner übertriebenen Wachsamkeit entgeht ihm aber, dass Jason mit seinem Freund den Mitschüler Ben Boyd über soziale Netzwerke mobbt und den introvierten Jugendlichen zu einem Selbstmordversuch treibt. Bens Eltern (Jason Bateman und Hope Davis) wiederum nehmen bis zu der fatalen Entscheidung ihres Sohnes kaum am Leben ihrer Kinder teil.

Die Ehe von Derek Hull (Alexander Skarsgård) und seiner Frau Cindy (Paula Patton) ist vom Tod ihres Babys überschattet. Während Cindy Hilfe in Internetforen sucht und dabei Fremden sämtliche Details ihres Privatlebens verrät, spielt sich Derek beim Online-Poker um Kopf und Kragen. Erst als ihre Kreditkarten gehackt und das Konto leergeräumt wird, erwachen die beiden aus ihrer Starre.

Klar, die digitale Revolution frisst ihre eigenen Kinder. Doch für diese Message alleine käme der Film mindestens ein Jahr zu spät. Seit dem NSA-Theater wissen selbst weniger Internet- und Social-Media-affine Menschen wie die deutsche Kanzlerin, dass der ganze Spaß mit Vorsicht zu genießen ist. Hinter „Disconnect“ steckt mehr als eine Abrechnung mit dem World Wide Web. Laptop, Smartphone und Tablet zwingen ihre Nutzer nicht dazu, nur noch oberflächlich zu kommunizieren. Und selbst Mark Zuckerberg kann wenig dafür, wenn Jugendliche auf Facebook zu Mobbing-Opfern werden. Die Grundidee dieser technischen Errungenschaften – nämlich Verbindung zwischen Menschen herzustellen – wird von den Nutzern pervertiert. Wir entfernen (disconnect) uns immer weiter voneinander.

Rubins verbindet diese Fehlentwicklung mit ganz und gar analogen Problemen. Eltern, die ihren Kindern nicht zuhören; ein Außenseiter, der gemobbt wird; eine karrieregeile Journalistin, die das Vertrauen ihrer Quelle missbraucht; und ein Ehepaar, das nicht mehr miteinander spricht. Ein bisschen banal und vorhersehbar im Grunde. Aber eben auch nachvollziehbare Themen. Inszeniert ohne künstlichen Höhepunkt oder Twist ist „Disconnect“ ein Drama, das zum Nachdenken anregt. Der gewohnheitsmäßige Griff zum Smartphone nach dem Abspann zwickt das Gewissen.